ZEITGENÖSSISCHER TANZ FÜR JUNGES PUBLIKUM. Positionen, Räume und Perspektiven

Der zeitgenössische junge Tanz ist ein sehr junges Phänomen in Deutschland. War er bislang eher eine Randerscheinung in der Landschaft der darstellenden Künste, so entfaltet er sich derzeit rasch. Indikatoren hierfür sind die Veränderungen der Festi- vallandschaft in den letzten fünf Jahren: Im Jahr 2016 präsentierte das Internationale Tanz- und Performance-Festival für junges Publikum Think Big in München bereits seine fünfte Ausgabe, es gab erstmalig das Festival Zig Zag- Neuer Tanz für junges Publikum in Potsdam und Auf dem Sprung – Junger Tanz im Dialog in Aachen. In Berlin bringen die Berliner Festspiele beim Tanztreffen der Jugend seit 2014 jährlich eine Woche lang sieben Tanzgruppen aus Deutschland zusammen. Diese Veranstaltungen sind gegenwärtig Ergebnis einer lebendigen Tanzszene, die im Aufbruch ist, den Jungen Tanz zu entdecken.

Choreograf_innen und Tänzer_innen in Deutschland arbeiten zumeist freischaffend in oft wechselnden Konstellationen, verschiedenen Projekten, mal als Einzelkünstler_innen, mal in längerfristigen Liaisons. Um produzieren, experimentieren, die eigene künstlerische Handschrift und den zeitgenössischen Tanz (weiter-)entwickeln zu kön- nen, brauchen Künstler_innen Orte und Räume, Partner und Projekte.

ENTWICKLUNGSMOTOR: PROJEKTE

Ein Grundpfeiler für den heutigen Stand der Entwicklung war die bundesweite Initiative der Kulturstiftung des Bundes Tanzplan Deutschland (2005–2010), in der fast alle Akteure und Institutionen der professionellen Tanz-Szene beteiligt waren mit dem Ziel, die Rahmenbedingungen für den Tanz und seine öffentliche und kulturpolitische Wahrnehmung als Kunstform zu verbessern. Dabei verfolgte Düsseldorf mit dem Projekt Take-off: Junger Tanz ein Gesamtkonzept zur Erforschung und Entwicklung der künst- lerisch qualifizierten Vermittlung von Tanzkunst an Kinder und Jugendliche in der Stadt wie im Land. Das EU-Projekt Fresh Tracks – New artistic identities (2011-2013), bei dem u.a. auch das Düsseldorfer Tanzhaus NRW Projektpartner war, fokussierte die Förderung von Künstlerpersönlichkeiten. Viele der in diesem Projekt eingebundene Künstler_innen prägen auch heute noch die bundesweite Tanzlandschaft, Nordrhein- Westfalen ist heute beispiellos das vitalste Bundesland im jungen Tanz. Bundesweit aber sind es vereinzelte Produktionshäuser der Freien Szene wie das K3 in Hamburg, der Mousonturm in Frankfurt und die tanzfabrik Potsdam, an denen der künstlerische Tanz, wie auch die Performance Arts, entwickelt werden, oder Kinder- und Jugendtheaterhäuser wie der schnawwl Nationaltheater Mannheim, Comedia Theater in Köln und das JES in Stuttgart, die Choreographen ihre Türen öffnen, und nicht zuletzt Einzel- Projekte wie TanzSpielZeit in Berlin, das in der letzten Spielzeit erstmals eine Reihe von Auftragsarbeiten an 10 Choreographen für kurze Stücke zum Thema ‚Beruf: Tanz‘ vergab.

ENTWICKLUNGSMOTOR: PARTIZIPATIVE TANZPROJEKTE

Die anderen Entwicklungsmotoren in den letzten zehn Jahren waren partizipative Tanzprojekte von Kindern und Jugendlichen. Jugendliche suchen in ihrer Freizeit zumeist die Anbieter im außerschulischen Bereich auf; der zeitgenössische Tanz wird derzeit hier weiterentwickelt. Der Tanz von Kindern hingegen hat sich an manchen Orten in Deutschland als fester Bestandteil im schulischen Angebot des offenen Ganz- tagsbetriebes etabliert. Bundesweite Programme wie Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung fördern partizipative Tanzprojekte in den letzten Jahren sehr stark in der Fläche. Sie unterstützen ihn als Breitenphänomen mit dem Anspruch, Heranwach- sende mit sogenanntem bildungsfernen Hintergrund kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Projekte wie z.B. TanzZeit in Berlin, Tanz und Schule in München oder Tanzlabor 21 in Frankfurt a. M. bringen professionelle Künstler_innen in Schulen, wo sie mit Schüler_innen in Vermittlungsprojekten arbeiten. So werden Zugänge geschaffen und Menschen einbezogen, die ihren Weg ins Theater nicht unbedingt von sich aus suchen würden. Tanz wird hier als Mittel des eigenen kreativen Ausdrucks verstanden, im Pro- zess erlebbar gemacht und aber auch als besondere Kunstform vermittelt.

STREIFZÜGE

Die künstlerischen Handschriften im Tanz für junges Publikum sind individuell und sehr vielfältig. Gemeinsam haben sie: Sie sind Stückentwicklungen, sie verstehen sich als Kunst für Kinder, die nicht belehren will, sondern offen und manchmal frech einlädt zuzuschauen, mitzumachen, sich zu wundern oder nachdenklich sein zu dürfen oder sich zu positionieren. Im Folgenden umreiße ich drei Tendenzen grob.

Der Tanz für die Allerjüngsten ist ein künstlerisch gewachsener Strang des Theaters von Anfang an mit verschiedenen Spielarten. Barbara Fuchs (fanzfuchs) setzt den Körper spielerisch, ja fast objekthaft in ihren Arbeiten ein, in „MAMPF!“ (2012, 0-4) balan- cieren zwei Tänzerinnen ein Ei auf dem Fuß und matschen mit Butter und Mehl. Florian Bilbao inszenierte das Stück „fliegen&fallen“ (2015, 2+) zum Phänomen Schwerelosigkeit und Erdanziehung als körperlichen Dialog mit einem aufblasbaren Raumobjekt des Luftobjektkünstlers Frank Fierke. Ceren Oran setzt das universelle künstlerische Vokabular des Soundpaintings für ihre Arbeit mit Musik und Bewegung ein, „Sag mal“ (2015, 2+) ist ein Stück über Sprache und Kommunikation ohne Worte.

Site-Specific performances sind (noch) selten, eine künstlerische Herangehens- weise in Bezug auf die Partizipation von Zuschauer_innen muss erfunden werden. In „Mannheimification“ (2015, 8+) hat der schnawwl in Kooperation mit La_Trottier Dance Collective eine eigene Version von „MURKAMIFICATION“ (2012 8+) von Eric Kaeil geschaffen, bei der Performer Häuserwände hochklettern und Häuserspalten mit ihren Körpern füllen. Ein gemeinsamer Gang durchs Viertel wird zur Performance. Im Berliner Tanzparcour „¡OUR PARK!“ (2015, 13+) verknüpft Lorca Renoux die verschiedenen Ortswechsel dabei thematisch mit einer steten unerwarteten Änderung der Perspektive und von Gefühlen. Das private Appartement einer Familie ist hingegen Ort für die Performance „ATO“ (2007, 6-10) von Alfredo Zinola für Kinder und Familien.

Eine Reihe von Arbeiten bringen Themen in Bewegung. Dabei stehen aktuell politische Topoi im Zentrum, die verhandelt werden. Die Tanzperformance „Rock wie Hose“ (2016, 5+) von Celestine Hennermann hinterfragt spielerisch stereotype Geschlechterzuschreibungen und wirbelt sie dabei durcheinander. In „TRASHedy“ (2012, 8+), ein Stück über das Thema Müll und Globalisierung von Leandro Kees, erklären, erzählen, fantasieren, fragen, bewegen, zeigen und zeichnen die beiden Tänzer, die von sich in der eigenen Person sprechen. Silke Z thematisiert in „Like a popsong“ (2015,13+) den Wunsch nach Popularität und Beliebtheit; dabei arbeiten jugendliche ‚Laien‘ und Profis an den Grenzen der Preisgabe von Persönlichem auf der Bühne als öffentlicher Ort.

Eine andere Erzählstrategie verfolgen Stücke wie „Ich bin’s, deine Schwestern“ (2016, 5+) von Martin Nachbar und Gabi dan Droste, die grundsätzliche Themen wie Geschwister bearbeiten; sie vertanzen sie nicht als Geschichte, sondern bringen verschiedene Geschwisterkonstellationen auf die Bühne und untersuchen so das Wechselspiel von geschwisterlicher Nähe und Konkurrenz, Schutz und Distanz, Liebe und Kampf. Franziska Henschel geht in „fühlende fische“ (2015, 5+) der Frage nach, wie und wo sich ein Gefühl, im gesamten Körper lokalisieren lässt und mit „Nimmer“ (2014) geht Antje Pfundtner dem Verschwinden und Erscheinen auf die Spur. Diese Arbeiten erzeugen offene, nicht-lineare Erzählstrukturen für eigene Interpretationen.

Die Zukunft des Jungen Tanzes? Zwei Thesen

Junge Künstler_innen heute verfügen über eine Freiheit in gesetzten Mitteln und Tech- niken. Aktuelle Entwicklungen in der Tanzszene zeigen die Nähe des zeitgenössischen Tanzes zu den Live und Performance Arts, die Verwendung von Forschungs- formen, Kampfsportarten, somatischen Methoden und Techniken wie Contact oder Yoga. Diese Trends haben in der Ausbildung einen hohen Stellenwert wie auch in den Szenen der Großstädte wie Frankfurt, Hamburg und Berlin, in die junge Menschen aus Europa und der ganzen Welt strömen. Langfristig werden diese Trends auch die Tanzkunst für junges Publikum verändern.

Heranwachsende heute sind Co-Creators. Sie erfinden, inszenieren und kommentie- ren sich selbst, ihre Rezeptions- und Produktionsweisen verändern sich grundlegend. Am Tanzhaus NRW wird derzeit mit dem für die deutsche Szene neuartigen Projekt Cliffdancers untersucht inwieweit die filmische Narrationstechnik des Cliffhangers geeignet ist, um auf ihrer Basis zeitgenössische Tanzperformances für ein junges Publi- kum zu entwickeln. Düsseldorfer Schüler_innen kreieren gemeinsam mit einem Team von Choreografen und Tänzern, Wissenschaftlern und Medienkünstlern, Bloggern und Gamedesignern eine Fan Fiction, die sie in von ihnen genutzten Plattformen und Me- dien mittels Snap-Chats, Instagram-Aktionen oder YouTube-Tutorials verbreiten. Ihre Ergebnisse präsentieren sie im Rahmen der Bühnenpremiere.

Zukunftsweisende Entwicklungen. Inspiration erhielten die darstellenden Künste für junges Publikum aus der Begegnung und Auseinandersetzung mit Kindern, Jugendli- chen und jungen Erwachsenen, das machen sie noch immer.

© Gabi dan Droste

Der Text ist in englischer Sprache erschienen in IXYPSILONZETT Magazin für Kinder- und Jugendtheater, Heft 1, 2017. IXYPSILONZETT ist eine Veröffentlichung im Verlag Theater der Zeit.

HEIMLICHE REVOLUTIONÄRE Ein Spaziergang durch das 2. Tanztreffen der Jugend

Dieser Text entstand nach meinem Besuch des 2. Tanztreffens der Jugend in Berlin im Herbst 2015

„3–1“, und dann: „1–2–1“, und dann wieder: „1–1–2“, rufen die Tänzerinnen Sophie Camille Brunner und Kaya Kolodziejczyk den Jugendlichen immer wieder zu. Sie studieren beharrlich eine Choreografie von Rosas danst Rosas auf der imposanten Großen Bühne des Hauses der Berliner Festspiele ein. Sie wiederholen die Bewegungen, die auf schier unendliche Weise immer wieder neu kombiniert werden können. Auf einem großen Blatt zum Ablesen ist die Kombinationsstruktur aufgeschrieben. Hinter den jungen Tänzer_innen ist der eiserne Vorhang hochgezogen, der Blick fällt in den Zuschauerraum der Großen Bühne mit seinen 999 Plätzen. Ein beindruckendes Szenario. Vor den Tanzenden: ein Kamerateam. Es filmt den ganzen Tag. Es zeichnet alles so auf, dass eine eigene Version der Choreografie entsteht, die als Tanz-Video auf der Projekt-Site Re:Rosas eingestellt wird.

Hier üben 60 Jugendliche, 11 bis 23 Jahre alt, Millennials, um die Jahrtausendwende Geborene, viele Mädchen und junge Frauen, ein paar Jungs und junge Männer – sie alle nehmen am Tanztreffen der Jugend der Berliner Festspiele teil, sie alle vereint eine gemeinsame Leidenschaft: tanzen.

Christina Schulz, Leiterin des Treffens, erzählt mir, dass die Festspiele das Tanztreffen ins Leben gerufen haben, da es bis zu seiner Gründung 2014 keinen Ort für Heranwachsende in Deutschland gab, an dem zeitgenössischer Tanz im Mittelpunkt stehe: „Also kein Ballett, kein Hip Hop, keine Standardtänze, kein Musical, kein … – zeitgenössisch!“, denke ich. Ein Katalog von Fragen rattert durch meinen Kopf. Ist die außergewöhnliche, minimalistische, in den 80er-Jahren entstandene Arbeit von Anne Teresa de Keersmaeker, die mittlerweile tradierter Teil der Tanz-Geschichte ist, für die Jugendlichen zeitgenössisch? Man kennt den Plagiatsvorwurf an den Popstar Beyoncé im Jahr 2011 – sicherlich motiviert die Idee des Tanz-Videos Heranwachsende, sich zeitgenössische Tanz-Kunst einzuverleiben, überlege ich anerkennend. Und dann schleicht sich ein kleines „Warum?“ ein. Was heißt zeitgenössisch für eine Generation, die wie keine andere von sich behaupten kann, dass sie die ‚zeitgenössische‘, die gegenwärtige sei? Zu Hause angekommen klick ich mich durch die derzeit aktuellen Top Ten auf YouTube: Songs von Ellie Goulding, Felix Jaehn, Sido, Sigala, Namika, Louane, Glasperlenspiel und Adele. Viel Tanz und Groove, viel Sex und Hips und Hipsters – vermarktete Jugendlichkeit oder quirlig lebendiges Zeugnis von Heute? Was heißt zeitgenössisch, wenn Jugendlichkeit und junge Körper ein gesamtgesellschaftliches Ideal sind und wenn, wie zum Beispiel auf der letzten Fashion Week in Berlin, man 16-Jährige Kleidung präsentieren lässt, die von Mittdreißigern gekauft wird?

(…)

Auf der Bühne bleibt während der ganzen Woche der Teenage Riot aus, es wird kein Stein geschmissen, keine Messerspitze in die Haut geritzt oder Körper gegen die Wand gedonnert, es gibt keinen Cyberspace oder digitalen Overflow, keine Texte gegen die Ohnmacht in Zeiten der Globalisierung und weltweiten Katastrophen. Stattdessen leise und intensive Töne über menschliche Sucht- und Sehnsuchts-Abgründe, über eine andere, offene, ohne gesellschaftlichen Druck funktionierende Wünsch-Wunder-Welt. Oder aber eklektischer Mediengebrauch, der eine zusammengestückelte Welt mit Bewegungen und Musik aus Film- und Musikwelt ergibt wie bei „Tabi“, einer Recherchearbeit zum Thema Japan vom Tanzhaus NRW Düsseldorf. Die Woche erstreckt sich vom Thema (körperliche) Identität, wie in „Selbstbaukasten“ der tjg.theaterakademie Dresden, über Kontakt in „Dritte Art“ des Tanzstudios Danzon in Tübingen bis hin zu im Raum angesiedelten, regelgeleiteten Improvisationen zu verschiedenen Energiezuständen in „Feuerblume“ der Kindertanzcompagnie Sasha Waltz & Guests. Alle beim Treffen gezeigten Arbeiten sind Stückentwicklungen. Auf der Bühne bleibt während der ganzen Woche der Flash Mob aus, keine Fernseh-Show-Parodie, kein Partizipationsspiel … es wird getanzt: auf der Bühne, es wird zugeschaut: im Zuschauerraum. Es wird frenetisch geklatscht. Und aftershow: wird kollegial gestritten und eine Menge Spaß gehabt.

Eigentlich ganz erschreckend: dunkle Stücke ohne Aufschrei – ist das nun doch die Ohnmacht, dass man noch nicht mal mehr schreien kann?

Diese Frage blitzt für einen Moment auf, als ich die letzte Aufführung in meiner Woche beim Tanztreffen zusammen mit meinen Töchtern und ihren Freunden sehe. Alle sind Anfang zwanzig, eine lustige Runde mit kanadischen, italienischen, kurdischen und rheinländischen Wurzeln. Meine Denke sei ihnen zu politisch, meinen sie. Sie selbst seien nicht unpolitisch. Für sie sei das alles eher eine Frage von Konsum, Ethik oder Lifestyle und nicht von einer zu verändernden Gesellschaftsordnung. Sie wollen nach ihren eigenen Vorstellungen leben. Sie sind noch verabredet, checken die Adresse von dem Club in Kreuzkölln aus – ich bleibe noch einen Moment bei einem Bier sitzen und schaue in die Runde, zu den Tischen, an denen die jungen Talente sitzen. Vielleicht macht genau diese Haltung sie zu heimlichen Revolutionären, die auf ihre Weise auch den Tanz verändern.

Dieser Text ist im Auftrag der Berliner Festspiele entstanden. Kompletter Text hier

© Gabi dan Droste, Januar 2016

BEWEGUNGEN Politik und Theater für junges Publikum

FORTFÜHRUNG DES TEXTES

DAS THEATER IN BEWEGUNGEN. POLITIK UND THEATER FÜR JUNGES PUBLIKUM

Theater und die anderen

Diese Debatte über Kunst, Politik und Gesellschaft, über das Verhältnis von Theater und Wirklichkeit gehört zum Theater wie das Amen in die Kirche. Der Dramaturg Ulf Schmidt hat dieses Spannungsverhältnis in ein schönes Bonmot gepackt: „Theater ist ein Ort der Gesellschaft in der Gesellschaft, an dem sich in Gesellschaft über Gesellschaft ästhetisch reflektieren lässt. …“ (Schmidt 2014). Oder wie es der große Theatertheoretiker Hans-Thies Lehmann ausdrückte: „Ein Ort der Versammlung, dem das Politische strukturell eingeschrieben ist.“ (Lehmann 2002) Die öffentliche Auseinandersetzung über Kunst und Politik wird jedoch zunehmend vehement geführt. Sie ist in der allgemeinen Kunstdebatte vor etwa sechs Jahren mit dem Beginn der politischen Umbruchsituationen beim arabischen Frühling, den Ereignissen auf dem Tahrir-Platz und bei der Occupy Bewegung wieder aufgeflackert. Hier wie auch in dem Gespräch mit Hardie und Khuon ging es vor allem um die Verortung von künstlerischer Praxis in Umbruchsituationen. Und zurzeit fragen deutschlandweit Theaterfestivals wie das Impulse Festival in NRW dezidiert: ‚Wie kann das Theater politisch sein?‘, die Dramaturgische Gesellschaft debattierte bei ihrer letzten Jahresversammlung in Berlin über ‚Was Tun. Politisches Handeln jetzt. Es gibt mehr und mehr Formate, bei denen politische Aktivist_innen und Künstler_innen kollaborieren wie bei the art of being many vorletztes Jahr auf Kampnagl. Die Schärfe der Auseinandersetzung zeigt die Dringlichkeit von neuen Ideen an. Die Handlungsfähigkeit zeitgenössischer Kunst steht zur Debatte.

Theater als soziales Labor

Auf dem Parkett des Kinder- und Jugendtheaters spricht Yvette Hardie. Sie berichtet über ihre Arbeit in Südafrika. Trotz einer der modernsten demokratischen Verfassungen in der Welt hat die multikulturelle Regenbogennation immer noch mit den Nachwirkungen des Apartheit-Regimes, mit massiven Gewaltproblemen und Ungleichheiten im Bildungssystem zu kämpfen. Ihre Kunstszene ist überaus lebendig, 43% der Bevölkerung ist unter 18 Jahre alt. Die Umbruchsituation in Südafrika ist keine aktuelle, sondern eine fortwährende. Der Wunsch, das Schwellenland zu einem friedvolleren und sozial ausgeglicheneren Zustand zu verhelfen, ist groß. Ziel ihrer Arbeit sei, so Yvette Hardie, Kindern den Zugang zu Kunst zu ermöglichen. Es sei eine politische Arbeit. Sie mache Theater, weil die Welt sehr dringend die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel brauche, und das Theater Reflexionsräume hierfür etabliere.

Zwei Giganten auf dem Podium, die eine aus Kapstadt, der andere aus Berlin – sie leben am jeweils anderen Ende der Welt, denke ich und bemerke beim Zuhören fasziniert ihre Gemeinsamkeiten: ihre Begeisterung für das Theater als soziale Kunstform, als Motor für gesellschaftliche Veränderungsprozesse. Theater eröffnet den Zugang zu einer größeren Welt als der eigenen, es eröffnet Phantasie- und damit alternative Möglichkeitsräume, meint die Weltpräsidentin. Es ginge darum, sich das (eigene) Leben anders vorstellen zu können und zu erkennen, dass es änderbar ist und dass man selbst in der Lage ist, es zu ändern. Teilhabe und Selbstwirksamkeit – Hardie beschreibt damit zwei Kernbegriffe gesellschaftlich wirksamer Arbeit mit künstlerischen Mitteln. Khuon spricht von ‚Erkenntnis gewinnen durch Kunst, die die Wirklichkeit verdichtet‘.

Theater als Marktplatz

Ulrich Khuon schildert die Ereignisse am DT im letzten Jahr: Die Mitarbeiter_innen sammeln Spendengelder für Geflüchtete, unterrichten sie in der deutschen Sprache, sie bieten Übernachtungsplätze im Theater an, halten Wache für die Beherbergten, schaffen Räume für den gemeinsamen internen Austausch, öffnen das Theater als Ort des Dialoges und rufen die Diskurs-Reihe ‚In welcher Gesellschaft wollen wir leben?‘ ins Leben. „Wir sind der Marktplatz, wo man Fragen stellen und seine Ängste ausdrücken darf.“ meint er. ‚Agora‘ geht mir durch den Kopf – die Agora (altgriechisch ἀγορά) war im antiken Griechenland der zentrale Fest-, Versammlungs- und Marktplatz einer Stadt, ein kennzeichnendes Merkmal der griechischen Polis und Veranstaltungsort für die Herausbildung einer gemeinsamen Identität. Khuons Schilderungen zeigen auf eindrückliche Weise die Strategien eines Theaters, das seinen Platz inmitten der (Stadt-)Gesellschaft als solidarische Gemeinschaft sieht.

Theater und der politische Körper

Die Südafrikanerin Jennie Reznek aus Kapstadt und Abdul Kinyenya aus Uganda arbeiten mit dem Körper, den sie als Mittel zur sozialen und gesellschaftlichen Veränderung einsetzen. Die eine mit Methoden des legendären französischen Pantomimen Jacques Lecoq, der andere mit Hip Hop. In Stuttgart zeigen beide auf, wie Tanz und Bewegung Menschen ein (Körper-)Vokabular geben, mit dem sie in direkte Kommunikation miteinander treten können unabhängig ihrer Sprache und eigenen kulturellen Prägung. Der Körper wird so zum politischen Körper. Reznek beschreibt diese Arbeitsweise als ein Geschenk, insbesondere da sie in der Post-Apartheit-Ära vor der Frage stehen, wie man zusammenkommt, als Ensemble und als multikulturelle Gesellschaft. Hip Hop ist zu einer globalen, weltumspannenden Sprache in der Welt avanciert.

Heutige moderne Gesellschaften sind multiple. Mir geht ein Aufsatz von Dorothea Hilliger, Universitätsprofessorin für performative Künste und Bildung, durch den Kopf, die schreibt, dass angesichts des multiplen Charakters heutiger Gesellschaften sich mit Deleuze und Guattari ausrufen ließe: ‚Hoch lebe das Viele (multiple)!‘ und sie führt aus: „Dies lässt sich so ausdeuten, dass es in einer pluralen Gesellschaft verschiedene parallel existierende und interagierende Handlungsformen, Sichtweisen, ‚Wahrheiten’ geben muss, die sich an den unterschiedlichen Subjekten festmachen lassen. Es lässt sich aber auch so verstehen, dass im künstlerischen ‚Umherirren’ im einzelnen Subjekt verschiedene Wahrheiten aufleuchten können, dass das Hybride, welches moderne Gesellschaften wie Subjekte kennzeichnet, hier erfahrbar wird.“ (Hilliger 2015)

An den zwei folgenden Abenden sehe ich zwei Inszenierungen für junges Publikum, die genau das zum Thema machen: Football on Stilettos (Kopergietery, Belgien) und Frühlingsweihe (Maas Theater, Niederlande) machen ‚das Viele‘ erfahrbar, provozieren die Blicke ihrer jungen Zuschauer_innen in ungewohnte Richtungen.

Das Theater und die Hybriden

Zum treibenden Sound von Joop van Brakel donnern minutenlang acht junge Menschen über einen Catwalk, so dicht an mir vorbei, dass ich die Luftbewegungen in meinem Gesicht spüre, die ihre kraftvoll gesetzten Schritte verursachen. Ich sitze abends neben anderen Zuschauer_innen in einem Arena ähnlichen Bühnenaufbau und wir schauen gebannt zu wie sich die acht jungen Körper im Inneren des Ovals anrempeln, auf den Boden werfen, wie sie flüchten und mit Blicken einander belauern. Gewalt liegt in der Luft. Eine zieht sich die Mütze vom Kopf und lässt ihr langes blondes Haar über die Schultern gleiten. Nach und nach entpuppt sich jede von ihnen als eine junge Frau. Sie tragen lange Abendkleider mit wallendem Haar, dann wieder kreischen sie, verschmieren Blut und jammern. Sie wetteifern um Anerkennung und üben sich im Authentisch-sein aber so wie die Gesellschaft es von ihnen verlangt. Frühlingsweihe zeigt tiefsinnige, kräftige Bilder von Weiblichkeiten und Zur-Frau-Werden; differenzierte, gegensätzliche Bilder, die ein vielfältiges und offenes Gesamtbild ergeben. Demokratie ist eine Arena, „wo Differenzen ausagiert werden können, ohne sie im Konsens befrieden zu müssen. Solche Arenen können Theater zumindest im Kleinen sein.“ meint der Kurator Florian Malzacher. (Malzacher 2016) Frühlingsweihe ist so eine.

 

Einen Abend später erlebe ich mit der Inszenierung Football on Stilettos das Pendant. Die Perfomer Rhandi Vlieghe und Jef van Gestel laufen nebeneinander in einer anscheinend immer gleichen Choreographie der Schritte, kleine Unterschiede in ihren individuellen Ausführungen der Bewegungen tauchen auf, der eine stopft sich einen Busen unter’s Hemd, der andere stöckelt auf hohen Schuhen daher. Dann tun sie tun das was ‚wahre Männer‘ tun: sie grillen und schmeißen im derben Outdoor-Look die Flex an. Im permanenten, immer wieder überraschenden Wechsel transformieren sie ihr Aussehen, ihre Körper und ihre Bewegungen, die zwischen männlich, weiblich und ‚dazwischen‘ mäandern und sich nicht eindeutig festlegen lassen wollen. Dann malt einer der beiden eine lange schwarze Linie auf eine weiße Wand – er trägt die Farbe mit seinem Kopf auf. Im Zuschauerraum ist es gespenstisch still. Unter dem Strich schreibt er mit großen, schwarzen Buchstaben: ‚It’s so easy to laugh and hate.‘ Und dann darüber: ‚It takes 1000 guts to be gentile and kind.“ Klare Aussage.

 

Das Theater des Vielen!

Football wie auch Frühlingsweihe operieren mit innovativen Erzählweisen und sind im hohen Maß politisch. Sie machen den Körper selbst zum Politikum, zeigen Varianten von (Körper-)Bildern einer komplexen Wirklichkeit. Sie tun dies mit einer umwerfenden Offenheit, ohne Bewertung aber mit einer klaren Haltung: Die Wirklichkeit ist divers und vielschichtig, alles ist eine Frage der Perspektive.

Zeitgenössische Theatermacher_innen in Deutschland debattieren im Moment wieder heftig über die Frage der Repräsentation auf der Bühne: Wenn Theater etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben will, dann müssen wir die Frage stellen: Wer (und folglich: aus welcher Perspektive) erzählt wem welche Geschichte und: wie? Das ist auch eine Machtfrage. Football und Frühlingsweihe bringen hybride Bilder von Menschen auf die Bühne, die gewöhnlich durch normative Setzungen aus sozialen Ordnungen und Machstrukturen ausgeschlossen oder an den Rand gedrängt werden. Sie drehen dabei aber den Spieß um. Sie sagen nicht: ‚Guckt mal, solche Leute gibt es ja auch noch!‘, sondern setzen die Vielfalt und die Freiheit im Ausdruck als gegeben auf die Bühne. Die ‚Anderen‘ sind die Zuschauenden, die herausgefordert werden, sich verhalten und die Ambiguität der Bilder aushalten zu müssen. Es gibt viele Wahrheiten. Bei denen auf der Bühne, und bei denen im Publikum.

Das Theater in Bewegungen.

Krisen können in Katastrophen enden. Der Evolutionsbiologe Jared Diamond wies nach, dass die Wikingerkultur in Grönland zusammenbrach, weil sie an der aus Dänemark bekannten und dort erfolgreichen Viehzucht festhielt, die aber das ökologische Gefüge in Grönland zerstörte. Und das obwohl „die Alternative, auf die Ernährung mit Fisch auszuweichen, buchstäblich direkt vor der Haustür lag.“ (Reiz 2015) Diese Kultur ist untergegangen, weil sie auf Gewohntes beharrte.

Krisen können das Potenzial haben, Neues hervorzubringen. Für unsere heutige Gesellschaft sind neue Wege unabdingbar zum Überleben. Es herrscht Konsens, dass der eingeschlagene Weg eine Sackgasse ist. Die ausgetrampelten Pfade sind bekannt. Vielleicht kann das Theater als Marktplatz in der Gesellschaft, auf dem das Viele von Vielen verhandelt wird, dazu beitragen, bislang unbekannte Lösungen in der Beweglichkeit und Bewegungen des Vielen zu suchen und zu entdecken.

© Gabi dan Droste, Juni 2016

Dieser Text ist als Reaktion auf meinen Besuch beim Festival ‚Schöne Aussicht‘ in Stuttgart entstanden, zu dem mich Brigitte Dethier und Christian Schönfelder als Beobachterin eingeladen hatten. Das Thema ‚Politik‘ stand im Zentrum und meine Kolleg_innen aus Südafrika und Belgien waren da – mindestens drei Gründen sich auf den Weg zu machen und sich an den Schreibtisch zu setzen.

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