BEWEGUNGEN Politik und Theater für junges Publikum

FORTFÜHRUNG DES TEXTES

DAS THEATER IN BEWEGUNGEN. POLITIK UND THEATER FÜR JUNGES PUBLIKUM

Theater und die anderen

Diese Debatte über Kunst, Politik und Gesellschaft, über das Verhältnis von Theater und Wirklichkeit gehört zum Theater wie das Amen in die Kirche. Der Dramaturg Ulf Schmidt hat dieses Spannungsverhältnis in ein schönes Bonmot gepackt: „Theater ist ein Ort der Gesellschaft in der Gesellschaft, an dem sich in Gesellschaft über Gesellschaft ästhetisch reflektieren lässt. …“ (Schmidt 2014). Oder wie es der große Theatertheoretiker Hans-Thies Lehmann ausdrückte: „Ein Ort der Versammlung, dem das Politische strukturell eingeschrieben ist.“ (Lehmann 2002) Die öffentliche Auseinandersetzung über Kunst und Politik wird jedoch zunehmend vehement geführt. Sie ist in der allgemeinen Kunstdebatte vor etwa sechs Jahren mit dem Beginn der politischen Umbruchsituationen beim arabischen Frühling, den Ereignissen auf dem Tahrir-Platz und bei der Occupy Bewegung wieder aufgeflackert. Hier wie auch in dem Gespräch mit Hardie und Khuon ging es vor allem um die Verortung von künstlerischer Praxis in Umbruchsituationen. Und zurzeit fragen deutschlandweit Theaterfestivals wie das Impulse Festival in NRW dezidiert: ‚Wie kann das Theater politisch sein?‘, die Dramaturgische Gesellschaft debattierte bei ihrer letzten Jahresversammlung in Berlin über ‚Was Tun. Politisches Handeln jetzt. Es gibt mehr und mehr Formate, bei denen politische Aktivist_innen und Künstler_innen kollaborieren wie bei the art of being many vorletztes Jahr auf Kampnagl. Die Schärfe der Auseinandersetzung zeigt die Dringlichkeit von neuen Ideen an. Die Handlungsfähigkeit zeitgenössischer Kunst steht zur Debatte.

Theater als soziales Labor

Auf dem Parkett des Kinder- und Jugendtheaters spricht Yvette Hardie. Sie berichtet über ihre Arbeit in Südafrika. Trotz einer der modernsten demokratischen Verfassungen in der Welt hat die multikulturelle Regenbogennation immer noch mit den Nachwirkungen des Apartheit-Regimes, mit massiven Gewaltproblemen und Ungleichheiten im Bildungssystem zu kämpfen. Ihre Kunstszene ist überaus lebendig, 43% der Bevölkerung ist unter 18 Jahre alt. Die Umbruchsituation in Südafrika ist keine aktuelle, sondern eine fortwährende. Der Wunsch, das Schwellenland zu einem friedvolleren und sozial ausgeglicheneren Zustand zu verhelfen, ist groß. Ziel ihrer Arbeit sei, so Yvette Hardie, Kindern den Zugang zu Kunst zu ermöglichen. Es sei eine politische Arbeit. Sie mache Theater, weil die Welt sehr dringend die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel brauche, und das Theater Reflexionsräume hierfür etabliere.

Zwei Giganten auf dem Podium, die eine aus Kapstadt, der andere aus Berlin – sie leben am jeweils anderen Ende der Welt, denke ich und bemerke beim Zuhören fasziniert ihre Gemeinsamkeiten: ihre Begeisterung für das Theater als soziale Kunstform, als Motor für gesellschaftliche Veränderungsprozesse. Theater eröffnet den Zugang zu einer größeren Welt als der eigenen, es eröffnet Phantasie- und damit alternative Möglichkeitsräume, meint die Weltpräsidentin. Es ginge darum, sich das (eigene) Leben anders vorstellen zu können und zu erkennen, dass es änderbar ist und dass man selbst in der Lage ist, es zu ändern. Teilhabe und Selbstwirksamkeit – Hardie beschreibt damit zwei Kernbegriffe gesellschaftlich wirksamer Arbeit mit künstlerischen Mitteln. Khuon spricht von ‚Erkenntnis gewinnen durch Kunst, die die Wirklichkeit verdichtet‘.

Theater als Marktplatz

Ulrich Khuon schildert die Ereignisse am DT im letzten Jahr: Die Mitarbeiter_innen sammeln Spendengelder für Geflüchtete, unterrichten sie in der deutschen Sprache, sie bieten Übernachtungsplätze im Theater an, halten Wache für die Beherbergten, schaffen Räume für den gemeinsamen internen Austausch, öffnen das Theater als Ort des Dialoges und rufen die Diskurs-Reihe ‚In welcher Gesellschaft wollen wir leben?‘ ins Leben. „Wir sind der Marktplatz, wo man Fragen stellen und seine Ängste ausdrücken darf.“ meint er. ‚Agora‘ geht mir durch den Kopf – die Agora (altgriechisch ἀγορά) war im antiken Griechenland der zentrale Fest-, Versammlungs- und Marktplatz einer Stadt, ein kennzeichnendes Merkmal der griechischen Polis und Veranstaltungsort für die Herausbildung einer gemeinsamen Identität. Khuons Schilderungen zeigen auf eindrückliche Weise die Strategien eines Theaters, das seinen Platz inmitten der (Stadt-)Gesellschaft als solidarische Gemeinschaft sieht.

Theater und der politische Körper

Die Südafrikanerin Jennie Reznek aus Kapstadt und Abdul Kinyenya aus Uganda arbeiten mit dem Körper, den sie als Mittel zur sozialen und gesellschaftlichen Veränderung einsetzen. Die eine mit Methoden des legendären französischen Pantomimen Jacques Lecoq, der andere mit Hip Hop. In Stuttgart zeigen beide auf, wie Tanz und Bewegung Menschen ein (Körper-)Vokabular geben, mit dem sie in direkte Kommunikation miteinander treten können unabhängig ihrer Sprache und eigenen kulturellen Prägung. Der Körper wird so zum politischen Körper. Reznek beschreibt diese Arbeitsweise als ein Geschenk, insbesondere da sie in der Post-Apartheit-Ära vor der Frage stehen, wie man zusammenkommt, als Ensemble und als multikulturelle Gesellschaft. Hip Hop ist zu einer globalen, weltumspannenden Sprache in der Welt avanciert.

Heutige moderne Gesellschaften sind multiple. Mir geht ein Aufsatz von Dorothea Hilliger, Universitätsprofessorin für performative Künste und Bildung, durch den Kopf, die schreibt, dass angesichts des multiplen Charakters heutiger Gesellschaften sich mit Deleuze und Guattari ausrufen ließe: ‚Hoch lebe das Viele (multiple)!‘ und sie führt aus: „Dies lässt sich so ausdeuten, dass es in einer pluralen Gesellschaft verschiedene parallel existierende und interagierende Handlungsformen, Sichtweisen, ‚Wahrheiten’ geben muss, die sich an den unterschiedlichen Subjekten festmachen lassen. Es lässt sich aber auch so verstehen, dass im künstlerischen ‚Umherirren’ im einzelnen Subjekt verschiedene Wahrheiten aufleuchten können, dass das Hybride, welches moderne Gesellschaften wie Subjekte kennzeichnet, hier erfahrbar wird.“ (Hilliger 2015)

An den zwei folgenden Abenden sehe ich zwei Inszenierungen für junges Publikum, die genau das zum Thema machen: Football on Stilettos (Kopergietery, Belgien) und Frühlingsweihe (Maas Theater, Niederlande) machen ‚das Viele‘ erfahrbar, provozieren die Blicke ihrer jungen Zuschauer_innen in ungewohnte Richtungen.

Das Theater und die Hybriden

Zum treibenden Sound von Joop van Brakel donnern minutenlang acht junge Menschen über einen Catwalk, so dicht an mir vorbei, dass ich die Luftbewegungen in meinem Gesicht spüre, die ihre kraftvoll gesetzten Schritte verursachen. Ich sitze abends neben anderen Zuschauer_innen in einem Arena ähnlichen Bühnenaufbau und wir schauen gebannt zu wie sich die acht jungen Körper im Inneren des Ovals anrempeln, auf den Boden werfen, wie sie flüchten und mit Blicken einander belauern. Gewalt liegt in der Luft. Eine zieht sich die Mütze vom Kopf und lässt ihr langes blondes Haar über die Schultern gleiten. Nach und nach entpuppt sich jede von ihnen als eine junge Frau. Sie tragen lange Abendkleider mit wallendem Haar, dann wieder kreischen sie, verschmieren Blut und jammern. Sie wetteifern um Anerkennung und üben sich im Authentisch-sein aber so wie die Gesellschaft es von ihnen verlangt. Frühlingsweihe zeigt tiefsinnige, kräftige Bilder von Weiblichkeiten und Zur-Frau-Werden; differenzierte, gegensätzliche Bilder, die ein vielfältiges und offenes Gesamtbild ergeben. Demokratie ist eine Arena, „wo Differenzen ausagiert werden können, ohne sie im Konsens befrieden zu müssen. Solche Arenen können Theater zumindest im Kleinen sein.“ meint der Kurator Florian Malzacher. (Malzacher 2016) Frühlingsweihe ist so eine.

 

Einen Abend später erlebe ich mit der Inszenierung Football on Stilettos das Pendant. Die Perfomer Rhandi Vlieghe und Jef van Gestel laufen nebeneinander in einer anscheinend immer gleichen Choreographie der Schritte, kleine Unterschiede in ihren individuellen Ausführungen der Bewegungen tauchen auf, der eine stopft sich einen Busen unter’s Hemd, der andere stöckelt auf hohen Schuhen daher. Dann tun sie tun das was ‚wahre Männer‘ tun: sie grillen und schmeißen im derben Outdoor-Look die Flex an. Im permanenten, immer wieder überraschenden Wechsel transformieren sie ihr Aussehen, ihre Körper und ihre Bewegungen, die zwischen männlich, weiblich und ‚dazwischen‘ mäandern und sich nicht eindeutig festlegen lassen wollen. Dann malt einer der beiden eine lange schwarze Linie auf eine weiße Wand – er trägt die Farbe mit seinem Kopf auf. Im Zuschauerraum ist es gespenstisch still. Unter dem Strich schreibt er mit großen, schwarzen Buchstaben: ‚It’s so easy to laugh and hate.‘ Und dann darüber: ‚It takes 1000 guts to be gentile and kind.“ Klare Aussage.

 

Das Theater des Vielen!

Football wie auch Frühlingsweihe operieren mit innovativen Erzählweisen und sind im hohen Maß politisch. Sie machen den Körper selbst zum Politikum, zeigen Varianten von (Körper-)Bildern einer komplexen Wirklichkeit. Sie tun dies mit einer umwerfenden Offenheit, ohne Bewertung aber mit einer klaren Haltung: Die Wirklichkeit ist divers und vielschichtig, alles ist eine Frage der Perspektive.

Zeitgenössische Theatermacher_innen in Deutschland debattieren im Moment wieder heftig über die Frage der Repräsentation auf der Bühne: Wenn Theater etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben will, dann müssen wir die Frage stellen: Wer (und folglich: aus welcher Perspektive) erzählt wem welche Geschichte und: wie? Das ist auch eine Machtfrage. Football und Frühlingsweihe bringen hybride Bilder von Menschen auf die Bühne, die gewöhnlich durch normative Setzungen aus sozialen Ordnungen und Machstrukturen ausgeschlossen oder an den Rand gedrängt werden. Sie drehen dabei aber den Spieß um. Sie sagen nicht: ‚Guckt mal, solche Leute gibt es ja auch noch!‘, sondern setzen die Vielfalt und die Freiheit im Ausdruck als gegeben auf die Bühne. Die ‚Anderen‘ sind die Zuschauenden, die herausgefordert werden, sich verhalten und die Ambiguität der Bilder aushalten zu müssen. Es gibt viele Wahrheiten. Bei denen auf der Bühne, und bei denen im Publikum.

Das Theater in Bewegungen.

Krisen können in Katastrophen enden. Der Evolutionsbiologe Jared Diamond wies nach, dass die Wikingerkultur in Grönland zusammenbrach, weil sie an der aus Dänemark bekannten und dort erfolgreichen Viehzucht festhielt, die aber das ökologische Gefüge in Grönland zerstörte. Und das obwohl „die Alternative, auf die Ernährung mit Fisch auszuweichen, buchstäblich direkt vor der Haustür lag.“ (Reiz 2015) Diese Kultur ist untergegangen, weil sie auf Gewohntes beharrte.

Krisen können das Potenzial haben, Neues hervorzubringen. Für unsere heutige Gesellschaft sind neue Wege unabdingbar zum Überleben. Es herrscht Konsens, dass der eingeschlagene Weg eine Sackgasse ist. Die ausgetrampelten Pfade sind bekannt. Vielleicht kann das Theater als Marktplatz in der Gesellschaft, auf dem das Viele von Vielen verhandelt wird, dazu beitragen, bislang unbekannte Lösungen in der Beweglichkeit und Bewegungen des Vielen zu suchen und zu entdecken.

© Gabi dan Droste, Juni 2016

Dieser Text ist als Reaktion auf meinen Besuch beim Festival ‚Schöne Aussicht‘ in Stuttgart entstanden, zu dem mich Brigitte Dethier und Christian Schönfelder als Beobachterin eingeladen hatten. Das Thema ‚Politik‘ stand im Zentrum und meine Kolleg_innen aus Südafrika und Belgien waren da – mindestens drei Gründen sich auf den Weg zu machen und sich an den Schreibtisch zu setzen.

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