VOM FRAGEN UND NICHT-ANTWORTEN: In welcher Welt will ich leben?

Seit Wochen weiß ich, dass ich eingeladen bin, beim AGORA Theater in St. Vith etwas zur Frage ‚in welcher Welt will ich leben?‘ zu sagen. Inspiration geben, Anregungen für einen super Austausch zwischen Generationen. Nichts lieber als das? Worüber denke ich nach, wenn nicht genau über dieses Thema?! Wochenlang lade ich einen Text nach dem anderen aus dem Netz herunter. Recherche! Texte über Europa, über Trump, über den Brexit, über Flutkatastrophen – die Nachrichten in meinem digitalen Ordner quillen über – Jede Sekunde werden 14 Stunden Videomaterial auf Youtube hochgeladen. Nur auf Youtube. Nicht zu denken was das für das ganze Netz heißt…

Auf Youtube singt Kate Tempest ‚Europe is lost‘. Ich schwelge in ihrer Lyrik und bewundere die junge Rapperin für ihre Emotionalität. Ann Marei Kantereit tönt mit KIZ ‚Hurra, diese Welt geht unter:‘ und ich komme mir vor wie eine Nussschale auf hoher See.

Seit Wochen verfolge ich Nachrichten aus meinem Kiez, aus Berlin, Europa und möglichst noch ein bissen mehr über den Tellerrand. Seit Wochen fällt mir von Tag zu Tag ein neuer Anfang ein, wie ich also starte mit meinem inspirierenden Vortrag: Am Tag, an dem geknüppelt wurde in Barcelona, wurde mir klar… oder:  An dem Tag, an dem Irma ihr Unwesen trieb, …. oder: An dem Tag, an dem die Rechten in den Bundestag gewählt wurden, …. usw. usw. usw. Man verliert den Anfang. Zwischendrin denke ich an eine Krankenstation. Vielleicht sind performative Aktionen klarer in ihrem Zugriff. Wirkungsvoller?

In meiner Fantasie füllt sich eine Krankenstation mit all diesen Menschen, den Nöten und dem Globus und ich überlege wie ich denn da noch ein Setting draus gestalten könnte ….

In meiner Fantasie schlagen die Wellen höher und ich drohe in meiner Nussschale in ihnen unterzugehen. Sowohl mit meinem völlig inspirierten und inspirierenden Vortrag wie auch ich mit mir selbst. Ich schwimme auf hoher See umgeben von Krisen und Untergangszenarien. Warum sollte gerade ich diese Frage beantworten können? Ich schlage den Laptop zu.

MEINE TOCHTER kommt in mein Arbeitszimmer und meint, sie würde bei der Frage ‚In welcher Welt will ich leben?‘ wohl die Figur der Worldlady einnehmen wollen. Warum? Frage ich. Naja, die wünsche sich doch dann immer den Weltfrieden, keinen Hunger mehr auf der ganzen Welt usw. Ehrenwerte Wünsche, ja – sage ich, aber ein bisschen dünn für einen Vortrag, oder? Sie kichert. Wir lachen.

Meine Tochter ist Anfang 20, sie lernt bei einem Tierarzt und will erst mal Tiermedizinische Fachangestellte werden und dann weiterschauen. Ich denke nach. Über diese Antwort, die meine Tochter zur Hand hatte und ich denke, genau darum kann es ja nicht gehen. Nicht dass ich mir den Weltfrieden nicht wünschte … das wäre einfach zu einfach.

Einfache Antworten sind derzeit leider häufig viel zu schnell zur Hand. Nach den Bundestagswahlen vor drei Wochen fragen sich viele jetzt: Wie könnte es soweit kommen? Wie konnte es dazu kommen, dass ‚wir‘ unsere Demokratie nun in Gefahr sehen? Anhaltspunkte werden in der sich schnell entwickelten Globalisierung gesehen, die durch ihren Highspeed Menschen entwurzelt und uns alle zu ‚Inhabitants of the Global City macht. Der Einzelne werde abgehängt, die Gesellschaft entsolidarisiere sich zunehmend. Folglich suchen Menschen wieder das Verbindende, eine Identität – sie finden ein Volk, eine Nation, Definitionen durch Abgrenzung. Dort wo der Dialog, das Miteinandersprechen aufhört, führt Abgrenzung zu Gewalt. Immerschon. Gerade weil wir zurzeit erleben, dass einfache Antworten leider häufig viel zu schnell zur Hand sind, denke ich zunehmend über das Antworten selbst und Antworten nach.

AUF DIE SUCHE GEHEN – es gibt keine einfachen Antworten 2: Vom Aushalten des Ungewissen.

Ich geh auf die Suche. Die Frage, in welcher Welt möchte ich leben, ist immer auch eine nach Zukunft. Wie stelle ich mir eine Welt in Zukunft vor? Was ist da und sollte sich in Zukunft ändern? Wie wünsche ich mir die Zukunft? Auf der Suche, ob es Prognosen gibt, Annahmen wie sich die Zukunft entwickeln wird, stöbere ich in meinen Unterlagen und finde einen Artikel über Berufe, die es vor 10 Jahren noch nicht gegeben hat. Ich lese u.a., dass 65% der Kinder, die heute eingeschult werden, im Laufe ihres Lebens Berufe ergreifen werden, die wir heute noch nicht auf dem Radar haben. Wir leben gerade in einer Zeit einer rasanten weltweiten Veränderung, einer weltweiten Transformation. Der Dramaturg Ulf Schmidt spricht von DiGITAL NAISSANCE. Einer Revolution der Wirthschaft, der Arbeitswelt, des Geldes, der Politik und des Zugangs zum Wissen und zur Kultur: Wir leben in einer Naissance und zwar in der digitalen Naissance, die sich vollzieht, ohne dass sie bewusst betrieben oder durch gesellschaftliche Ideale projektiert würde.“ Wir leben in einem revolutionären Umbruch ohne revolutionäres Subjekt, ohne revolutionäres Konzept, ohne revolutionäre Utopie. Wir wissen nicht, ob wir uns auf dem Marsch der Lemminge befinden, oder auf dem Zug ins gelobte Land.“

Wenn wir die Frage nach der Zukunft stellen, so müssen wir gestehen, dass wir nicht wissen wie genau Zukunft aussieht.

Natürlich muss man gute und wichtige Fragen stellen, gerade weil wir zurzeit erleben, dass einfache Antworten leider häufig viel zu schnell zur Hand sind. Aber es könnte eben sein, dass es nicht auf alles Antworten gibt, auch dass wir nicht wissen wie genau Zukunft aussieht. und dass man das nicht-sofort-Beantworten-Können aushalten muss. Die Frage nach Zukunft kann ich meiner Tochter nicht beantworten; ich muss da den mir vorgesehenen Platz als Ältere und daher Wissende aufgeben. Die Frage nach Zukunft stellt sich für meine Tochter zudem auch ganz anders als für mich. Sie ist einfach jünger als ich. Ich bin halt mein Alter, das ich bin.

Aber: Wir sitzen auch im gleichen Boot: Wir wissen beide nicht, wie die Zukunft aussehen wird.

VOM FRAGEN UND NICHT-ANTWORTEN: ein Gemisch.

Statt schnelle Antworten zu generieren erscheint es mir vielmehr viel wichtiger, ins Gespräch zu gehen, einanderzuzuhören, sein Nicht-Wissen zu teilen, sich auszutauschen und sich Zeit zu lassen, nachdenklich zu sein, zu hinterfragen.

Die Fähigkeit zu hinterfragen, kann auch eine Stärke sein. Statt immer schnellere Lösungen von alt bekannten Fragen zu generieren erscheint es mir wichtig, auch die Fragen zu hinterfragen und auch neue zu entwickeln. Etwas Neues, Zukünftiges – eine nächste Gesellschaft entsteht sogesehen durch eine kreative Veränderung des Gemisches aus Fragen und Antworten.

AUF DIE SUCHE GEHEN – Es gibt keine einfachen Fragen 1: Aus ‚In welcher Welt will ich leben?‘ wird ‚In welcher Gesellschaft will ich leben?‘

Ich geh also weiter auf die Suche und hinterfrage die Frage: In welcher Welt möchte ich leben? Sie ist so allumfassend. Wer oder was ist die Welt? Wer Ich? Und was meint denn ‚leben‘, … möchte ich leben?‘

Ich habe keine Antworten und nun kommt die nächste Überraschung: Ich habe auch keine Mega-Fragestellungen, ich möchte vielmehr zwei Gedankengänge teilen. Zwei Gedankengänge, die aus Gesprächen mit zwei Menschen entstanden sind, denen ich denen ich in letzter Zeit gern zugehört habe, da sie mein eigenes Denken hinterfragen, mich herausfordern:

SANYA LINDFORS – oder wie ich anfing zu verstehen was Rassismus bedeutet.

 

CAROLIN EMCKE – und wie ich anfing zu verstehen was eine Mehrheit ausmacht.

„Eine machtvolle Mehrheit im Sinne von Baldwin ist nichts, was man besitzt, sondern etwas, das man immer wieder sprechend und handelnd herstellen muss.“

 

 

Auszug aus einem Vortrag beim AGORA THEATER in St. Vith (Belgien).

Published by gabidandroste